Dienstag, 20. Oktober 2015

»Vorsicht Operation«

»Vorsicht Operation«

Janne Jörg Kipp

Einen spektakulären Bericht über die Geschehnisse in deutschen Krankenhäusern hat vor kurzer Zeit die Wissenschaftsjournalistin Meike Hemschemeier vorgelegt. Sie ist keine Ärztin. Sie vergibt keine Ratschläge. Sie hat sich vielmehr mit Insidern getroffen, mühsam recherchiert und besorgniserregende Fakten herausgearbeitet. Ein wichtiges, kurzweiliges und spannendes Buch.

»Jedes Jahr (kommt) fast ein Fünftel aller Deutschen in eine Klinik«. Dies berichtet ein Wissenschaftlicher, den Meike Hemschemeier im Zuge eines Films über Infektionen im Krankenhaus befragte. Sie war sprachlos. Zudem ist die Steigerungsrate enorm. Über 400 000 Eingriffe mehr lautet die Bilanz, die sie in ihrem Buch Vorsicht Operation. Wie wir zu Kranken gemacht werden und was wir dagegen tun können vorlegt. Werden wir alle schneller und öfter krank?

Nein, beruhigt die Deutsche Krankenhausgesellschaft: Medizinischer Fortschritt und eine alternde Bevölkerung lassen diesen rasanten Anstieg natürlich erscheinen. Dennoch: Die Autorin hat sich mit dieser allgemeinen und lauen Aussage nicht abspeisen lassen. »Die Wahrheit aber ist: Sie können in unseren Krankenhäusern und Arztpraxen nicht automatisch davon ausgehen, dass das Beste für Ihre Gesundheit getan wird«, eröffnet Sie ihren Bericht.

Wir erfahren von unnötigen Operationen, einen Befund, den Sie einwandfrei belegen kann. Gemessen wird der Umfang des Geschäfts beispielsweise an den »Krankenhausentlassungen«. 24 von 100 Bürgern werden jährlich aus dem Krankenhaus entlassen, haben es also besucht. Die Länder der OECD kommen auf 15,5. Die Niederlande, als Grenzland nicht weit entfernt, bringen es auf 11,6 Entlassungen. In zahlreichen Operationsdisziplinen belegen unsere Krankenhäuser den ersten oder zweiten Platz. Kein Wunder, weiß die Autorin zu berichten:

Gut 300 Milliarden Euro gehen jährlich in das Gesundheitswesen dieses Landes, also etwa so viel wie für den Staatshaushalt. 5,2 Millionen Arbeitsplätze hängen von der Gesundheitsindustrie ab. Und dieses Geschäft betreiben die Träger offenbar professionell. 15,7 Millionen Operationen nannte das Statistische Bundesamt für das Jahr 2012. Vollstationär, also mit Krankenhausaufenthalt. Dazu kamen 1,9 Millionen ambulante Eingriffe. Das Ganze summiert sich zu erstaunlichen 17,6 Millionen Operationen bei rund 80 Millionen Einwohnern. Dabei werden sogenannte Belegärzte mit Zugang zu Krankenhäusern nicht einmal aufgeführt. Ebenso wenig die Chirurgen in medizinischen Versorgungszentren, die selbstständigen Gynäkologen, Zahnärzte, Dermatologen oder Orthopäden.

Ein großes Geschäft oder medizinische Notwendigkeit?

Nun könnten wir vermuten, dass wir tatsächlich einen so hohen medizinischen Standard entwickelt haben, dass dies alles der Gesundheit dient. Nun, auch darauf weiß die Wissenschaftsjournalistin bereits im Einstieg eine Antwort. Therapeutische Arthroskopien am Knie bringen laut vielen Studien nichts. Das »Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)« stellte jedoch vor Jahren fest, dass diese Operation an rund 200 000 Patienten in Deutschland durchgeführt wurde.

Und so führt die Autorin einen Beleg nach dem nächsten an. Immer deutlicher wird, dass Krankenhäuser, dass die Gesundheitsindustrie in weiten Teilen schlicht die eigenen Profite im Auge hat. »Es ist ein riesiges Geschäft«, sagt der namhafte Chirurg Professor Dr. Hartwig Bauer, lange Jahre Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Der Mediziner aus Leidenschaft grämt sich für seine Zunft. Er ist froh, dass er bald in Rente geht und gibt der Autorin die entscheidenden Kontakte. Wir erfahren von einer ungleichen Verteilung der Operationen über die Bundesländer und Landkreise hinweg; von ungewöhnlichen Häufungen bei Wirbelsäulen-Operationen, seltsamen und bedrückenden Einzelschicksalen und schließlich vom gesamten System.

Codes: das lernende System

Codes bestimmen im Krankenhausalltag alles. Die Codes regeln, welche Leistung wie abgerechnet wird, wie viel Zeit also Ärzte und das Krankenhaus für den Aufenthalt investieren dürfen oder können. Die Sichtweise ändert sich: Das System gibt vor, wie viele Operationen in einem bestimmten Bereich noch fehlen, wo also Geld drinsteckt.

Immer tiefer wird der Sumpf, den Meike Hemschemeier offenbart. Gute Patienten, schlechte Patienten, falsche Therapien, schlimmste Nebenwirkungen unnötiger Operationen und ein System gegenseitiger Zuweisungen und Belobigungen. Ein Boden, der allen erdenklichen Formen der Wirtschaftskriminalität Wachstumschancen bietet. Ärzte kaufen Patienten von anderen Patienten. Kliniken kaufen Patienten von Ärzten. Krankenhäuser, die von niedergelassenen Ärzten abhängig sind. Ein unglaublicher Morast.

Schließlich eröffnet eine zusätzliche, brisante Studie den weiteren Blick auf die Materie: Laut einerStanford-Untersuchung haben nahezu 90 Prozent aller Mediziner angegeben, dass sie»lebensverlängernde Maßnahmen und aggressive Maßnahmen wie Chemotherapie und Operationen bei nicht heilbaren Krankheiten ablehnen« würden. Für sich. Nicht für die Patienten.

Es ist eine Kriminalgeschichte, die Sie sicherlich in einem Zuge lesen werden. Und ein nützlicher Ratgeber dazu, wenn Ihnen Ihre Gesundheit wichtig ist. Diesem Zweck dient auch der Abschluss des mehr als 200 Seiten starken Buches. »Wege aus der Fabrik« und »Notnägel für Patienten« heißen die letzten Abschnitte. Hier lesen Sie, ob Sie als gesetzlich Versicherter oder als Privatpatient bessere Chancen haben, wie Sie das richtige Krankenhaus finden und wie Sie die einzelnen Eingriffe nach den Codierungsvorschriften interpretieren können. So identifizieren Sie auch die Qualitätsberichte der Krankenkassen, können Ihre eigenen Operationen vorab beurteilen und sitzen in jedem Wartezimmer selbstsicherer.

Die Autorin selbst schreibt schließlich: »Sie haben (…) sicher an Sorglosigkeit verloren, dafür aber ein Stück Kontrolle gewonnen. (…) Das lohnt sich.« Diesem Urteil schließe ich mich vorbehaltlos an.





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