Gegen Diabetes und Allergien: Urkeime bei Amazonas-Indianern entdeckt
Markus Mähler
Was machen westliche Forscher am Amazonas? Sie reisen zurück in die Steinzeit und nehmen Speichel- und Stuhlproben bei Indianern, die isoliert von der modernen Welt leben. Diese Indios tragen eine beispiellose Vielfalt an Bakterien in sich. Darunter unbekannte Arten mit Widerstandsgenen. Sie schützen offenbar auch vor Diabetes, Allergien, Asthma und anderen Zivilisationskrankheiten. Hat die moderne Medizin mit ihrer klinischen Sauberkeit bei uns zu viel abgetötet?
Tief draußen im Quellgebiet des Orinoco-Flusses – an der Grenze zwischen Venezuela und Brasilien – verbirgt sich eine medizinische Sensation. Dort lebt der Stamm der Yanomami. Die Koordinaten ihrer Dörfer sind Geheimsache und das ganze Areal eine militärische Sperrzone.
Bisher hielt das Urvolk im Amazonaswald die Flugzeuge am Himmel für Seelen auf dem Weg durch die Lüfte. Seit 11 000 Jahren leben die Yanomami isoliert vom Rest der Welt. Bis jetzt, denn nunspazieren plötzlich weiße Forscher durch ihre Dörfer und bitten die erstaunten Indios um Haut- und Mundabstriche oder gleich um eine Stuhlprobe.
Forscher schicken die Indios für eine Stuhlprobe in den Wald
Den US-Forschern und ihren venezolanischen Kollegen geht es dabei um das Mikrobiom der Yanomami. So werden die Billionen Bakterien im menschlichen Körper genannt, die meisten davon sind wichtig für unsere Gesundheit und das Immunsystem. Was die Forscher an den Indios erstaunt: Sie tragen eine unglaublich große Menge an bisher unbekannten Keimen in sich.
Der Volksmund würde sagen, sie haben eine sehr gesunde Darmflora. Das Mikrobiom der zivilisationsmüden US-Amerikaner ist im Vergleich dazu 40 Prozent weniger dispers, also nur etwa halb so vielfältig.
Die Urkeime der Amazonas-Indianer weisen auch einzigartige Widerstandsgene auf, die den Wissenschaftlern bislang ein Rätsel sind. Wie können Bakterien, die so isoliert wie ihre Wirte leben, gegen synthetische Antibiotika der modernen Medizin resistent sein? Bereits im April veröffentlichte Jose Clemente von der Icahn School of Medicine in New York eine Studie, die mehr Fragen aufwirft, als beantwortet. Er nannte es aber eine »einzigartige Gelegenheit, unsere mikrobische Vergangenheit unter das Mikroskop zu bringen«.
Wir haben die gesunden Urkeime verloren
Die Bakterien der Yanomami sind keine seltene Mutation, sondern das, was wir alle einmal in uns trugen – aber jetzt verloren haben. Was hat diese Vielfalt in der modernen Welt zerstört? UnserLebensstil, die klinisch saubere Medizin, die Chemie? Im Regenwald gibt es keine Konservierungs- und keine Zusatzstoffe. Dort hat nie ein Supermarkt gestanden, dort lag nie ein genetisch verändertes Lebensmittel im Regal. Offenbar haben wir einen bequemen Weg eingeschlagen, der die Gesundheits-Keime zerstört.
Die Forscher vom venezolanischen Caicet-Zentrum sind gerade wieder zu den Indianern aufgebrochen. Sie reisen zurück in die Urzeit, nehmen bei den Indios ständig neue Proben, haben aber noch keine Antworten. Was bisher klar ist: Das vielfältige Mikrobiom der Yanomami schützt seine Wirte vor anderen, schädlichen Keimen. Scheinbar sind wir modernen Menschen so anfällig für Diabetes, Allergien, Asthma und viele weitere Immun- und Stoffwechselkrankheiten, weil uns die Keimbesiedlung aus der Urzeit abhandengekommen ist.
Muss ein Indianerstamm für die Zukunft der Menschheit isoliert werden?
Die meisten Studien zum menschlichen Mikrobiom wurden bisher an US-Amerikanern und Europäern vorgenommen. Jetzt taucht ein kleiner, isolierter Indianerstamm auf und lässt uns wie eine Sackgasse der Evolution aussehen – zumindest, was die Zahl der gesundheitsfördernden Keime angeht.
Das stürzt die Biologen auch in ein ethisches Dilemma: Dürfen sie die Indios mit moderner Medizin behandeln? Zerstört schon ein Stück Seife oder eine Tube Zahnpasta ihre wertvollen Keime? Mussder Stamm im Amazonaswald weiter isoliert werden – für die Zukunft der Menschheit und den Kampf gegen ihre Wohlstandskrankheiten?
Der Glücksfall für die Pharmaindustrie und die Biotech-Branche
Die Indios wissen offenbar nicht, wie wertvoll sie für die milliardenschwere US-Pharmaindustrie sind oder die Biotech-Branche. Oscar Noya-Alarcón ist einer der 23 Autoren der großen Mikrobiom-Studie – und der Einzige, der die Yanomami persönlich in ihrem isolierten Dorf besucht. Er beschreibt, dass die erstaunten Indios das Ganze offenbar für ein Spiel halten.
Den Forschern mit ihren Wattestäbchen und Plastikbehältern für Urinproben wird es damit natürlich leicht gemacht. Sie picken mit Pipetten Hautproben von den Unterarmen oder schicken die Indianer mit Röhrchen für Stuhlproben in den Wald. »Die haben natürlich gelacht«,berichtet der Arzt, »die Yanomami lachen überhaupt sehr viel«. Bei der ersten Begegnung befühlten sie die weiße Haut der Neuen und lachten über die Füße der Forscher. Die waren in Schuhen versteckt und so weich, wie es die Indios nur von Babyfüßen kennen.
Ein Leben als Versuchskaninchen
Auch, wenn die Yanomami nicht wissen, dass die Welt eine Kugel ist, sie sind jetzt ein Teil von ihr. Ihre Heimat ist zum Zeitreise-Experiment geworden und sie sind die Versuchskaninchen. Wenn dieBiologen ihre Proben beisammen haben, steigen sie in einen Helikopter der venezolanischen Armee und fliegen fast 1000 Kilometer zurück in das Tropeninstitut von Puerto Ayacucho.
Dort beginnt die Arbeit am Mikroskop, in der Petrischale und in der Massenspektrometrie-Anlage. Gloria Dominguez-Bello ist eine weitere Autorin der Mikrobiom-Studie und erklärt: »Die Herausforderung besteht darin, herauszufinden, was die wichtigen Bakterien sind, deren Funktion wir benötigen, um gesund zu sein.« Aber keine Sorge, die Urkeime der Indianer landen vorerst nicht im Supermarktregal. Kein Gesundheits-Joghurt von Nestlé – jetzt mit den echten Yanomami-Kulturen. Das wäre eine echte Verschwendung. Pharmariesen und Biotech-Konzerne werden damit viel mehr Geld verdienen können.
.
Copyright © 2015 Das Copyright dieser Seite liegt, wenn nicht anders vermerkt, beim Kopp Verlag, Rottenburg
Bildnachweis: Frazao Production / Shutterstock
Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Meinung des Verlags oder die Meinung anderer Autoren dieser Seiten wiedergeben.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen